Die Historie ist voller Beispiele vom Aufeinandertreffen von Ereignissen und Begegnungen, die wir als „besondere Umstände“ oder „glückliche Fügung“ bezeichnen. Wenn der sprichwörtliche „Genosse Zufall“ seine Hände im Spiel hat, können scheinbar verloren gegangene Begebenheiten aus dem Orkus der Geschichte hervorgeholt, also „wiederentdeckt“ oder zu neuem Leben erweckt werden und dann, wenn sie „aus erster Hand“ berichtet und weitergetragen werden, eine besondere, mithin historische Dimension erlangen.
Die moderne Geschichtswissenschaft hat für die auf mündlicher Überlieferung basierende Geschichte den Begriff der „Oral history“ geprägt. Sie nutzt solche mündlichen Erzählungen oder Schilderungen als Primärquelle, um daraus Erkenntnisse über eine zuweilen weit zurückliegende Epoche zu gewinnen. Gäbe es solche Zeitzeugenberichte, also Berichte von Menschen, die „dabei gewesen“ sind, nicht, blieben sie dem kollektiven Gedächtnis wohl für immer verloren.
In der folgenden Geschichte half der „Genosse Zufall“, ein Kriegserleben in Erinnerung zu bringen, das sich in Montabaur kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges zutrug. „Brückenbauer“ war die Deutsch-Texanische Gesellschaft, die sich die Aufgabe gestellt hat, gemeinsame Wurzeln von Menschen aus der Region Montabaur und der Gemeinde Fredericksburg ausfindig zu machen, Begegnungen zu ermöglichen und so zu einem Stück weit zur Völkerverständigung beizutragen.
Zwei Amerikaner in Montabaur
Aber zur Sache: Die Geschichte, um die es hier geht, ist einem doppelten Zufall geschuldet. Es ist die Geschichte von Donelson Houseman, einem amerikanischen Kriegsgefangenen, der einige Wochen als Verwundeter im Brüderkrankenhaus zu Montabaur verbrachte, und einem US-Militärarzt namens Dr. David Habif, der an gleicher Stelle seinen Dienst tat. Die beiden Amerikaner hatte das Schicksal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Montabaur, genauer: in dem zu einem Lazarett umgestalteten Krankenhaus, zusammengeführt – der eine als Kommandeur einer Mörser-Einheit, der andere als Mediziner, der Verwundete Deutsche wie Amerikaner betreute und sich bei Ankunft der US-Armee als Friedensstifter hervortat.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die Geschichte wenige Wochen vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Montabaur. Die Wege der beiden Kriegsgefangenen kreuzen sich in der heutigen Kreisstadt, dann, nach Waffenstillstand und Rückkehr in die Vereinigten Staaten, verlieren sie sich wieder, bis sich einer von ihnen an die Ereignisse in und um Montabaur im Frühjahr 1945 erinnert. Ein Bewohner der Stadt Dallas erfährt von der Städtepartnerschaft Fredericksburg mit der Verbandsgemeinde Montabaur und erzählt davon Don Houseman, der damals ebenfalls in Dallas wohnte. Houseman erinnert sich „spontan“ an jene Monate, die er 50 Jahre zuvor in Montabaur verbrachte und macht sich auf den Weg in die Stadt, in der er die letzten Kriegstage sowie die Befreiung durch die US-Armee erlebte. Seine Schilderungen aus dem Jahr 1999 sind es noch heute, 75 Jahre nach Ende des Krieges Wert, im Gedächtnis bewahrt zu werden.
Erinnerungen an den Krieg – und an das Brüderkrankenhaus Der damals 75-jährige Houseman berichtet zunächst dem „Fredericksburg Standard“ von seinen Kriegserlebnissen. Er erinnerte sich lebhaft, wie er – es war kurz vor Weihnachten 1944 – in Belgien verwundet, gefangen genommen und nach Prüm in der Eifel verlegt wurde, wo man sich an Heiligabend infolge eines amerikanischen Luftangriffs in den Keller eines von Bomben beschädigten Hotels begeben hatte. „Ich werde nie vergessen, wie wir auf dem harten, kalten Kellerboden lagen, als plötzlich ein Deutscher anfing, ‘Stille Nacht, heilige Nacht‘ zu singen.“ Als dann die amerikanischen Gefangenen in den Gesang (in Englisch) einstimmten, scheint Houseman überwältigt. „Sieh an!“, denkt er, „noch vor ein paar Tagen versuchten wir uns gegenseitig zu töten, und jetzt sind wir durch Christus vereint.“
Von Prüm aus wurde Houseman in das Stammlager (Stalag) 12A bei Limburg verlegt, um letztendlich, wie er schreibt, „in eine kleine Stadt namens Montabaur“ zu gelangen. Dort war er mit etwa 20 amerikanischen Offizieren „in einem Steinhaus“ untergebracht, das „geführt von einem Orden katholischer Mönche“, von der Wehrmacht als Lazarett beschlagnahmt worden war. Vor seiner Aufnahme habe er ab- und bei der Entlassung wieder zugenommen, erwähnt er in seinem Bericht: „Mein Gewicht war von 150 Pound (68 Kg) auf 115 Pound (52Kg) gefallen, bevor ich nach Montabaur geschickt wurde, wo es wieder bis auf etwa 125 Pound (56 Kilo) anstieg.“ Houseman führt dies auf eine bessere Versorgung zurück:
„Statt ein Sechstel von einem Laib Brot pro Tag bekamen wir in Montabaur ein Drittel von einem Laib Brot und die doppelte Ration Kartoffeln“.
Ein amerikanischer Arzt, der Deutsche behandelt
Dass die letzten Kriegstage eher positive Erinnerungen bei Houseman wecken, liegt nun an dem zweiten Hauptakteur unserer Geschichte, die mit dem Namen des Arztes Captain David Habif aus New Jersey verknüpft ist. Habif war im Krieg nach Europa gekommen, hatte sich freiwillig zum 101. Luftwaffengeschwader der US-Armee gemeldet und war im Zuge der Normandie-Invasion in Bastogne, wo er Verwundete pflegte, in Gefangenschaft geraten.
Drei Monate, von Januar bis Ende März 1945, verbrachte er im Brüderkrankenhaus in Montabaur. Dort assistierte er den deutschen Ärzten, half bei der Versorgung der Verwundeten und untersuchte auch Houseman unmittelbar nach dessen Ankunft. Er sei geschickt worden, um den Arm seines Landsmanns zu amputieren, habe er zu Houseman gesagt, damit sich die Infektion nicht weiter verbreiten könne. Angeblich behandelte der Arzt seinen Patienten auch mit Sulfonamiden, einer Substanz, die eigentlich nur deutschen Gefangenen vorbehalten war. In Housemans Worten stellte sich die Montabaurer Erfahrung und die Begegnung mit Dr. Habif als ein Glücksfall heraus, zeigte doch die gekonnte Behandlung seiner Wunde mitsamt dem regelmäßigen Wechsel des Verbands zunehmend Erfolge. „Die Schwellung in meinem Arm ging zurück und damit auch die großen Schmerzen (…) Ich war in einer viel besseren Verfassung, und ich werde immer voll Dankbarkeit für Captain Habif sein.“ Zuletzt hält Houseman fest, dass durch diese Erfahrung beide „gute Freunde“ wurden und noch mehrere Jahre nach dem Krieg in Verbindung standen.
Kriegsende in Montabaur
Aber zurück zum Geschehen in Montabaur. Nach Housemans Darstellung waren die amerikanischen Lagerinsassen „sehr aufgeregt“, als sie Anfang März zunächst gerüchteweise erfuhren, dass ihre Landsleute den Rhein bei Remagen überquert hatten und sich in Richtung Montabaur bewegten. Als die Panzer der 2. Infanterie-Division immer näher rückten, und nachdem das deutsche Krankenhauspersonal einschließlich der Wachposten kapituliert hatte, verließ Houseman das Krankenhaus „um zu sehen, wie die Panzer durch die Stadt rollten.“ Dabei wurde er Zeuge eines schrecklichen Unglücks. Ein Panzer mit jubelnden US-Soldaten an Deck „überschlug sich und stürzte über eine Mauer den Berg hinunter“. „Wie entsetzlich!“, kommentierte er das tödliche Geschehen, „der Krieg war schon zu Ende“.
Doch davor hatte ein anderes Ereignis in der Nachbarschaft für Aufsehen gesorgt. Nachdem bekannt geworden war, dass amerikanische Panzer über die Autobahn in Richtung Montabaur vorrückten, sprengten am Morgen des 26. März deutsche Soldaten die Autobahnbrücke bei Eschelbach. Daraufhin fuhr Dr. Habif mit einem anderen Arzt den US-Soldaten „in einem weiß angestrichenen PKW mit roten Kreuz“ entgegen. Habif brachte die Militärkolonne bei
Elgendorf zum Stehen und erklärte dem Kommandeur, „dass die deutschen Soldaten Montabaur bereits verlassen hätten und von der Bevölkerung der Stadt kein Widerstand zu erwarten sei.“ Folglich rollten die Panzer in Montabaur ein und rückten bis zum Rathaus vor, ohne einen Schuss abzugeben. Dabei befreiten sie auch ihre im Krankenhaus festgehaltenen Landsleute.
Nachtrag: Eine Städtepartnerschaft mit Fernwirkung
Nach seiner Befreiung begab sich Dr. Habif zu seiner späteren Frau, die damals noch als Krankenschwester in Frankreich arbeitete. Anschließend flog er zurück in die USA, wo er an seiner alten Wirkungsstätte, der Columbia-Universität in New York, bis zu seinem Tod im Jahr 1992 tätig war. Houseman selbst gelangte über Frankreich nach England, von dort mit einem Lazarettschiff nach New York und nach einwöchigem Aufenthalt in einem Krankenhaus per Eisenbahn in seine texanische Heimatstadt Temple. „Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich ich war, wieder in Texas zu sein, als der Zug den Red River überquerte“, so beendete er seine Ausführungen, über die die „Fredericksburg Standard Radio Post“ am 3. Februar 1999 berichtete.
Im Mai 1999 kam Houseman nach Montabaur zurück. Dem Brüderkrankenhaus überreichte er einen Scheck über 1.000 Dollar und brachte auch ein an seinen Vater gerichtetes Dankschreiben des Vatikans vom 17. September 1945 mit, nachdem dieser aus Dankbarkeit für die gute Behandlung im Brüderkrankenhaus an den Papst einen Scheck über 100 $ gesandt hatte. Acht Jahre danach, am 25. Juni 2007, übergab Houseman der Stadt Montabaur sein Kriegstagebuch, das über seinen damaligen Aufenthalt in Montabaur Aufzeichnungen enthält.
Dem anderen Protagonisten der Geschichte, Dr. David Habif, war es nicht vergönnt, noch einmal nach Montabaur zurückzukehren und auch nicht, von der sich anbahnenden Städtepartnerschaft Montabaur-Fredericksburg zu erfahren: Er starb 1992 in New York.
Allerdings ließ es sich sein Sohn, ebenfalls praktizierender Arzt, nicht nehmen, im August 2004 die frühere Wirkungsstätte seines Vaters aufzusuchen. Damals führten ihn Bruder Georg Baldus und Bruder Heinz Gensenbrock durch das heutige Brüderkrankenhaus.
Don Houseman verstarb am 23. 10. 2017 im Alter von 94 Jahren. Es gibt auch ein Interview mit ihm in English auf C-SPAN wo er die Geschichte schildert. Ab Minute 40:00 erzählt er von Montabaur.